
Toleranz schulen
Jeanine Grütter, Bildungsforscherin an der Universit?t Konstanz, schildert im Interview, welche sozialen Dynamiken sich in den Klassenzimmern heute abspielen. Insbesondere untersucht sie Diskriminierung und Vorurteile in Schulklassen.
Wie ?u?ert sich die Diskriminierung an Schulen?
Jeanine Grütter: Wenn ein Kind aufgrund von seiner Zugeh?rigkeit benachteiligt wird oder negative Erfahrungen macht. Dies kann auf sprachlicher Ebene geschehen, dass ein Kind beschimpft wird oder Gerüchte verbreitet werden. Diskriminierung kann aber auch aggressives, gewaltsames Verhalten beinhalten. Hintergrund ist ?hnlich wie bei Mobbing oft ein Machtungleichgewicht im Klassengefüge. Im Durchschnitt werden pro Klasse etwa ein bis zwei Kinder ausgeschlossen oder leiden unter Mobbing.
Was bedeutet das für die betroffenen Kinder?
Jeanine Grütter: Die Kinder sind meistens eingeschr?nkt in ihren schulischen Leistungen, weil sie vor allem ihre Aufmerksamkeit darauf lenken: ?Was machen jetzt gerade die anderen? Werde ich gleich wieder Zielscheibe?“ Sprich, sie konzentrieren sich weniger auf den Stoff und sind auch weniger bereit, sich am Unterricht zu beteiligen.
Kinder und Jugendliche, die Diskriminierung erleben, nehmen die Schule nicht mehr als sicheres Umfeld wahr und fühlen sich h?ufig auch nicht mehr zu der Schule zugeh?rig. Mitunter suchen sie sich andere Quellen, wo sie sich als eine positive Person wahrnehmen k?nnen. Und durch die negativen Erfahrungen mit Gleichaltrigen kann der Selbstwert sehr stark beeintr?chtigt werden, sodass sie sp?ter ein h?heres Risiko für psychische St?rungen haben.
Welche Rolle spielt die Lehrkraft, wenn es zu Diskriminierung in einer Klasse kommt?
Jeanine Grütter: Wie die Lehrer*innen im Falle von Diskriminierung reagieren, spielt eine besonders wichtige Rolle. Wenn die Lehrkraft eingreift, signalisiert sie dem ausgeschlossenen Kind, dass es sich auf sie verlassen kann, und es erlebt die Schule als sicheres Umfeld. Die negativ agierenden Kinder merken, dass sie mit ihrem Verhalten nicht durchkommen. Am wichtigsten aber sind die Kinder, die nicht direkt Teil der Handlungen sind, sondern nur beobachten, die sogenannten Bystander. Diese sehen: ?An dieser Schule werden Kinder nicht ausgeschlossen und, wenn es passiert, dann tritt jemand für sie ein. Also mache ich das auch.“ Eine solche Motivierung der Bystander ist eigentlich das effektivste Mittel, damit Mobbing, Ausschluss oder Diskriminierung gar nicht erst stattfinden.
Immer noch begegne ich jedoch leider manchmal der Haltung: ?Das geht mich als Lehrperson wenig an, das ist nicht meine Verantwortung.“ Aber es liegt sehr wohl in deren Verantwortung, ob sich die Kinder in der Schule wohlfühlen, sich zugeh?rig fühlen.
Was k?nnen Lehrkr?fte konkret tun, um soziale Dynamiken positiv zu beeinflussen?
Jeanine Grütter: Da gibt es viele M?glichkeiten. Der erste Schritt ist zu erkennen, was in der Klasse abl?uft. Um dies zu verstehen, zeichnen wir jeweils soziale Netzwerke von einer Klasse und schauen dann, welche soziale Stellung die Kinder haben und wie man diese ver?ndern k?nnte: zum Beispiel über strategisch geplante Gruppenspiele, Gruppendiskussionen, aber auch Sitzplatzanordnungen oder sonstige Lerngruppeneinteilungen. So kann man bewusst viele Begegnungsr?ume für die Kinder schaffen und sie zu Offenheit bei Gruppenbildung ermuntern.
Für die Gruppendiskussionen eigenen sich Geschichten von Kindern, die divers sind, sehr gut. Anhand solcher Geschichten kann die Gruppe diskutieren: War es fair oder unfair, wie sich die Charaktere verhalten haben, wenn zum Beispiel ein Kind ausgeschlossen wurde, weil es langsam lernt? Was k?nnten sie sich dabei gedacht haben? Wie fühlen sich die Beteiligten? Die Idee ist, dass die Kinder all diese Gedankeng?nge nachvollziehen und so ihr Bewusstsein für ihre eigenen Haltungen und Verhaltensweisen sch?rfen und eigene Strategien überlegen. Wichtig ist dabei, dass die Lehrperson sich in der Diskussion zurücknimmt und nur nachfragt, um der Diskussion mehr Tiefe zu geben.
Das vollst?ndige Interview mit Jeanine Grütter ist im Digitalmagazin der Universit?t Konstanz frei verfügbar. Darin erfahren Sie mehr über die Hintergründe von Diskriminierung und über ein konkretes Projekt für Schulklassen, das einen offeneren Umgang mit Anderssein einübt.